(Predigt am 12./13. September 2015)
 
A.SchweizerVor 50 Jahren, am 4. September 1965, ist Albert Schweitzer in Afrika verstorben. Einst wurde er wie ein Star der Menschlichkeit, der Humanität gefeiert. Jetzt zu seinem 50. Todestag gab es immerhin ein bescheidenes Echo in den Medien. Ein Film im TV, diverse Artikel in Zeitungen und Zeitschriften. Viele betonen seine erstaunlich gleichbleibende Aktualität auch heute noch! Vor genau 100 Jahren, im September 1915, hatte dieser Albert Schweitzer als noch junger Arzt in Afrika ein für sein Leben entscheidendes Schlüsselerlebnis:
„Als ich - es war im September 1915 - mit meiner Frau ihrer Gesundheit wegen in Kap Lopez am Meere weilte, wurde ich zu Frau Pelot, einer kranken Missionsdame, nach N ́Gomo, an die 200 km stromaufwärts, gerufen. Als einzige Fahrgelegenheit fand ich einen gerade im Abfahren begriffenen kleinen Dampfer, der einen überladenen Schleppkahn mit sich führte... Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken - es war trockene Jahreszeit - hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahns, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem
konzentriert zu bleiben. Am Abend des 3. Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferdehindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und gesucht, das Wort ́Ehrfurcht vor dem Leben vor mir.“
Dieser besondere Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben ist im Bewusstsein der Menschen hängengeblieben. Ein kleines Beispiel: Bei den alten grünen Tafeln, die oft bei den Eingängen von Parks und Naturparks stehen und die Menschen bitten, nach bestimmten Regeln mit der Natur umzugehen, stehen am Schluss - quasi als Motivation - die Worte: „...aus Ehrfurcht vor dem Leben, aus Liebe zur Natur...“.
Das große Verdienst Albert Schweitzers war es, den Verantwortungsbereich der Ethik über den Menschen hinaus ausgeweitet zu haben. Das haben die christlichen Konfessionen in ihrer Ethik bis dahin übersehen. Ihnen ging es nur um die Verantwortung für den Menschen, nicht aber für die Tiere, die Natur, die Schöpfung im Ganzen.
Der deutsche Naturphilosoph Klaus Meyer - Abich hat diese konzentrischen Kreise der ethischen Verantwortung und ihre Erweiterung folgendermaßen in Worte gefasst:
1. Jeder nimmt nur auf sich selbst Rücksicht (egozentrisch).
2. Jeder nimmt auf sich selbst und alle Mitmenschen Rücksicht (anthropozentrisch).
3. Jeder nimmt auf sich selbst und alle Mitmenschen und überhaupt auf alle bewusst empfindenden Wesen (Tiere) Rücksicht (pathozentrisch).
4. Jeder nimmt auf alles Lebendige (auch Pflanzen) Rücksicht (bioszentrisch).
5. Jeder nimmt auf alles Rücksicht (die gesamte Schöpfung) (holistische Ethik).
Für Albert Schweitzer liegt die Begründung für die Ehrfurcht vor dem Leben in der Erfahrungstatsache:
„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
Für ihn ergibt sich daraus das „denknot
wendige Grundprinzip des Sittlichen“:
„Das Wesen des Guten ist: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Das Wesen des Bösen ist: Leben vernichten, Leben schädigen, Leben in seiner Entwicklung hemmen.“
Ich möchte Sie jedenfalls einladen, den Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben in Ihrem Bewusstsein lebendig zu erhalten und bei allem Handeln im Hinterkopf zu berücksichtigen. AMEN.